Wann sind wir systemrelevant?

Von Generation WOW05.05.2021

Die prasselnde Flut neuer Wörter könnte unsere Gesellschaft spalten, findet MEINS-Autorin Angelika Brinkmann. Insbesondere die Debatte darüber, wer wann und wieso systemrelevant ist, findet sie beängstigend

Meine zwei Kinder besuchten eine Krippe, in der Eltern sich voll einbringen – Waschen, Kochen, Geburtstage, das ganze Tamtam. In spezieller Erinnerung ist mir die „Causa Sandkasten“: Als es ans Aufbauen dieses ökologisch wertvollen Holzteils geht, ruft ein Super-Papi mit hysterisch erhobenen Händen: „Ich kann nicht mit anpacken. Meine Finger sind mein Kapital!“ Widerspruch zwecklos, er ist Cellist. Dafür bin ich gewitzt! „Beeindruckend“, lächle ich. „Die anderen werden das sicher verstehen, so als Gärtner, Zahnarzt, Optiker, Lehrer, Lastwagenfahrer …“ Ich biete ihm an, den Sand zu transportieren, ätsch, sein alter Kombi knirscht bestimmt immer noch.

Sprache ist ein Instrument. Wir drücken mit Worten aus, was wir fühlen. Das kann erschütternd sein.Für den Zusammenhalt in einer Kinderkrippe, für unsere Gesellschaft und insbesondere für die Zukunft. Diese pandemieinfizierte Wortflut, die täglich in immer neuen Varianten auf uns einprasselt, ist so giftig wie ein Virus. Über 1200 Wortneuschöpfungen zählt das Institut für Deutsche Sprache in Mannheim mittlerweile. 1199 davon können weg, wenn Sie mich fragen. Ich behalte nur „Covidiot“, denn zu dem lassen wir uns gerade machen. Denken wir nur an das Wort „systemrelevant“.

Ab wann wir systemrelevant sind? Immer!

Wir alle sind doch relevant für unser individuelles System! Jeder Einzelne! Familien sind Systeme, Lebens- und Wohngemeinschaften, Unternehmen, Nachbarschaften, Sportvereine, die Wursttheke im Supermarkt. Ob wir dabei immer unsere zehn Finger gebrauchen wie ein Cellist oder nicht. Menschen sind kein Kapital, sie sind nicht nach Relevanz einzuordnen, auch darf ihr Wert niemals monetär bemessen werden – das ist diffamierend. Hören wir doch mal genau hin: Bewegungsradius, Geisterspiel, Kontaktverbot, Abstandsbier, Faustgruß, Exit-Strategie, Durchseuchung, Herdenimmunität, Impfschleicher, Virenbomber – das ist Science-Fiction! Dieser beängstigende Wortschatz beschreibt nur vermeintlich unseren Alltag in der Krise. Vielmehr wirkt er entmutigend, und jede dieser Sprachschöpfungen treibt einen Keil zwischen uns und unser Gegenüber.

„Die Lage ist ernst“, sagt die Bundeskanzlerin häufig. Was zunächst nach bedachtem Wortgebrauch klingt, relativiert sich in seiner lexikalischen Bedeutung. „Ernst bezeichnet – im Gegensatz zum Leichtsinn – eine ziel- gerichtete, gefahrenbewusste, gedankliche Einstellung, die auf das Überleben von Personen, Familien, Rassen gerichtet ist.“ Da wären wir beim Begriff „Risikogruppe“, und ich frage: Für wen ist es denn KEIN Risiko zu erkranken? Ich bitte dringend um achtsame sprachliche Angemessenheit!

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